Der Weg als Leitmotiv
Wir machen uns auf den Weg, wegen Paulus, ihm nach, und mit ihm. Eingeführt in seine Umwelt und das Denken seiner Zeit ebenso wie in einige Aspekte seiner Person und seines Glaubens wollen wir betrachten: Was hat sich ereignet bei diesem Unterwegs-Sein zwischen den beiden Weltmittelpunkten Jerusalem und Rom, zwischen dem Damaskus-Ereignis und dem Martyrium?
Dabei bedenken wir, daß „der Weg“ gerade in Jerusalem der erste Begriff war für die neue Glaubensrichtung, bevor dann in Antiochia als nächster wichtiger Station erstmals die Bezeichnung „Christen“ auftaucht.
Zur Quellenlage und Literatur
Wenn wir nun dem Reisenden Paulus folgen wollen, erhebt sich die Frage, was wir eigentlich sicher über diese Etappe seines Lebens wissen und vor allem woher?
Auf den ersten Blick sieht das ganz einfach aus: In unseren Bibeln finden sich Karten des östlichen Mittelmeerraumes, in die mehr oder weniger farbig und gut unterscheidbar vier Reisen eingetragen sind. – Jeder von uns ist schon so – mit dem Finger auf der Landkarte – dem Völkerapostel nachgefahren! Woher aber nehmen die Kartographen ihre Unterlagen? – Da antworten wir, wie aus der Pistole geschossen: Aus der Apostelgeschichte! Wir haben ja unsere Hausaufgaben gemacht und dieses Buch des Neuen Testamentes vor der Reise (noch mal) gelesen.
Schon der Titel des Werkes flößt nach heutigem Verständnis für unsere Fragen Zuversicht ein für historische Antworten auf historische Fragen – und wirklich werden wir von Kapitel 8 bis 28 an die Hand genommen und mit Paulus durch die halbe antike Welt geführt.
Haben Sie auch schon einmal gedacht, wie gut es ist, im Gegensatz zu den vier Evangelien nur die eine Apostelgeschichte zu besitzen, so daß niemand daherkommen kann, verschiedene Werke nebeneinander zu legen und kritisch zu vergleichen, wie das bei den Evangelien unter dem Begriff Synopse geschieht?
Und doch wird genau das gemacht in der theologischen Forschung – zum Vergleich kommen die Briefe des Paulus, im folgenden „Paulinen“ genannt. Wenn wir dazu in unseren Bibeln nachschlagen, finden wir meist 14 der 21 Briefe des Neuen Testamentes unter der Überschrift „Paulusbriefe“. Nun ist sich aber die Forschung nur bei der Hälfte von ihnen, also bei 7 darüber einig, daß sie von Paulus persönlich stammen. Die anderen, die man wissenschaftlich als pseudepigraphisch bezeichnet, sind freilich nicht als Fälschungen zu betrachten; sondern – in antiker Denkweise – als Fortsetzung seines Werkes, als Aktualisierung: Was Paulus in dieser Situation gesagt hätte, was der Prediger in der Auslegung des Sonntagsevangeliums auf seine Zuhörer hin sagt. Deshalb müssen die Pseudepigraphen also keineswegs weniger wert oder gar falsch sein: Sie sind ebenso wie die Paulinen Glaubenszeugnisse -aber eben einer späteren Zeit, Darin gleichen sie den anderen sieben Briefen des Neuen Testamentes, die man ihrer allgemeinen Anerkennung und Wertschätzung in der frühen Christenheit wegen in nicht konfessionellem Sinn „Katholische Briefe“ nennt.
Zeitgenössische oder gar autobiographische Angaben können wir natürlich nur in den wirklichen Paulinen erwarten und nicht in späteren Werken, die als spätere Worte im Sinne Pauli zu betrachten sind. Da erhebt sich jetzt, damit alle Klarheiten beseitigt sind, nur noch die Frage, wie der nicht hauptberufliche Bibelleser sich klar darüber werden soll, welcher Brief als was gilt?
Von diesen Bestandteilen des Neuen Testamentes noch einmal ganz deutlich abgegrenzt werden müssen solche Schriften, die nicht in den Kanon als Grundlage der Kirche aufgenommen wurden. Für solches außerkanonisches Schriftgut ist auch der Name „Apokryphen“ eingeführt. Da gibt es Akten des Paulus, ein Martyrium, verschiedene Briefe und sogar einen ausgewachsenen Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca! Für unsere Reise aber doch von Bedeutung wurden die Akten des Paulus und der Thekla, denn in ihnen findet sich das äußere Paulusbild, das seine Wiedergabe in der christlichen Kunst und damit wiederum sein Bild bei den späteren Gläubigen geprägt hat. Er wird geschildert als „ein Mann von kleiner Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung, mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit…“
Ebenso wenig historisch gesichert sind die jüdischen Zeugnisse, da sie alle erst später entstanden und von der Auseinandersetzung mit der wachsenden Heidenkirche geprägt sind. In ihren Vorwürfen von Zauberei, Irrlehre etc. lassen sie aber erkennen, welchen Problemen Paulus auf seinen Missionsreisen gegenüberstand.
Indem wir uns so der authentischen Quellen über Paulus versichert haben, können wir weiterfragen, welche Ergebnisse nun deren Vergleich mit der Apostelgeschichte erbringt:
Die Paulinen sind ja Gemeinde- oder Gelegenheitsbriefe. Sie enthalten deshalb nur zufällig autobiographische Angaben, denn Paulus hat ja Jesus Christus verkündet und nicht sich selbst. Und doch lassen diese knappen Angaben einige Unterschiede zur Apostelgeschichte erkennen. Dieser Umstand wird in den eingehefteten Kommentaren der Bibelausgabe oder in der trotzdem äußerst lesenswerten Monographie von Tresmontant kaum berücksichtigt.
Das Paulusbuch von Bornkamm demonstriert die Differenzen umso deutlicher. Hier wird eine Gewichtung beider Quellen vorgenommen und die Briefe werden entschieden vorgezogen als älter, authentischer und vor allem als unabsichtliche Informanten.
Die Apostelgeschichte dagegen wird auf kurz vor 100 n. Chr. datiert und damit auch sekundär: Ihr Verfasser kann ja dann kaum der Begleiter Pauli sein. Statt Augenzeugenschaft wird ihm aber ein starkes eigenes Konzept zugeschrieben. Der historisch-kritische Forscher bemerkt also öfters im Text eine Verfasserabsicht und ist eben kritisch gestimmt. Gut sichtbar wird die Arbeit des Verfassers zum Beispiel an den großen Reden: Solche von Petrus und von Paulus sind sich sehr ähnlich, und dazuhin nach dem antiken Schema für solche Anlässe gearbeitet Weiterhin werden von Forschern unterschiedlichste Vorlagen benannt, die von Lukas mangels eigener Anschauungen eingebaut und dabei nicht immer ganz verstanden worden seien. Dieser fungiert jetzt nur noch als Redakteur, der zum Beispiel auf eine vorliegende Reiseroute, ein so genanntes Itinerar zurückgreift. Einen Überblick über derartige Fragen bietet ganz erstaunlich vielseitig das dickleibige und akribische Werk von Haenchen über die Apostelgeschichte.
Kürzer, versteckter in seinen Konsequenzen, ja verschmitzt – eben echt schwäbisch – erlaube ich mir, auch aus persönlicher Erinnerung an den Verfasser zu sagen – das Paulusbuch von Schelkle!
Am plastischsten zu lesen ist aber unser Reiseleiter, Herr Elliger, in „Paulus in Griechenland“: Von Ort zu Ort folgend habe ich lange nicht bemerkt, welche Theologen-Streitfragen da mit dem Ausdruck „der Paulus der Apostelgeschichte“‘ elegant umschifft werden!
Hoffentlich ist durch diesen kleinen Schnüffler in die große wissenschaftliche Literatur etwas verständlich geworden, daß immense Forschungsarbeit dahintersteckt, eine relative Chronologie als Abfolge der Ereignisse um Paulus zu konstruieren und diese dann als absolute Chronologie in die antike Weltgeschichte hineinzustellen!
Einen Eindruck von diesem Bemühen kann man sich im genannten Ellinger-sehen Buche verschaffen, besonders in den Fußnoten: So wird zum Beispiel auf Seite 233 erklärt wie durch den Fund der Gallio-Inschrift in Delphi der Paulusaufenthalt in Korinth datierbar wurde. Durch solche Berührungen von Archäologie und neutestamentlichen Quellen entstand der zeitliche Rahmen. So erscheint er in der heutigen Literatur, um wenige Jahre differierend oder um einige gesicherte Daten reicher oder ärmer.
Schließlich soll nicht verschwiegen werden, daß die Apostelgeschichte in einer Reihe bekannter, außertheologischer Bücher wesentlich glaubwürdiger bewertet wird.
Als erster Autor ist hier Peter Bamm zu nennen, Klassiker der Reiseliteratur zum Mittelmeer, der die Apostelgeschichte als in 100 Dingen zuverlässig erfahren hat; im wahrsten Sinne des Wortes.
Ebenso ein Fahrensmann, und zwar zur See, ist Ernie Bradford, dessen preiswertes Taschenbuch „Die Reisen des Paulus1‚ meine einzige unabweisbare Ergänzung zur Literaturliste sein soll. Nicht immer auf der Höhe historischer Forschung, aber sehr einfühlsam in Orte, Zeitläufe und eben die Wege des Paulus, denen er mit eigener Yacht auf der Spur war. Doch auch von Nicht-seglern wird anerkannt, daß etwa im Kapitel 27 der Apostelgeschichte eines der besten Dokumente über die antike Schiffahrt überhaupt vorliegt. Vielleicht ist man im eigenen Haus der Theologie vielleicht doch gegenüber diesem Werk überkritisch gewesen – mir kommt fast vor, man habe in manchen Jahren und Universitäten nur Arbeiten angenommen, in dem Sinne, daß die traditionsüberkritische Arbeitsauflassung des Ordinarius fortwährend neue Fragezeichen mußt gebären.
Wir jedoch, nehme ich an, wollen uns weniger mit den Fragezeichen als dem, was davor steht, beschäftigen.
Ein kleiner Nachschub zu dieser Frage: Ist es nicht bemerkenswert daß mit dem Ziel und Ende der Apostelgeschichte in Rom alle sicheren Nachrichten über Paulus versiegen?
Damaskus
Wie sich unterschiedliche Bewertung der Quellen auswirkt, sehen wir gleich beim ersten Schwerpunkt unserer Reisebetrachtung: Damaskus! Die gern gemalte Szene vor den Mauern der Stadt gründet auf der Darstellung von Apostelgeschichte 9: Plötzlich fällt Licht vom Himmel, Saulus stürzt zu Boden und hört mit seinen Begleitern die Stimme fragen: „Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?“ – Ebenso äußerlich wahrnehmbar vollen det sich das Ereignis: Ein Jünger Ananias wird vom Herrn berufen, Saulus in der Geraden Straße die Hände aufzulegen, so daß er, indem er den Heiligen Geist empfängt, wieder sehend wird.
.Anschließend erst wird er getauft. Dieser Umstand interessiert angesichts des späteren Problems der Aufnahme von Heiden und steht in Parallele zum folgenden Kapitel 10: Dort erlebt Petrus staunend im Haus des römischen Hauptmannes Kornelius, wie der Heilige Geist über die natürlich noch nicht getauften Heiden herabkommt. Er kann dann nicht umhin, diese zu taufen. Der vor Damaskus Berufene selbst schildert das für ihn lebensentscheidende Ereignis in den erhaltenen Briefen nur in Rechtfertigung seines Amtes. Dabei geht er von den Folgen des Geschehens aus und von der Vorsehung Gottes: Galater 1,15 ff.
„Als es dem, der mich von meiner Mutter Schoß ausersehen hatte und durch seine Gnade berufen hat, gefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich die Heilsbotschaft von ihm unter den Heiden verkünde, da wandte ich mich nicht sofort an Fleisch und Blut, ich reiste auch nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern ich ging weg nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück.“
Weil diese und die entsprechende Berufungsdarstellung in Philipper 3 weder örtliche noch sonst äußerliche Kennzeichen gibt, folgern kritische Theologen auf ein rein innerliches Erleben, das in der Apostelgeschichte legendenhaft verzeichnet ist.
Mein unmaßgeblicher Vorschlag sei, das in der Apostelgeschichte gemalte Bild so zu betrachten, wie religiöse Darstellungen im Osten überhaupt zu sehen sind: Als Vergegenwärtigung, zum Einleben in einen inneren Vorgang. Jedenfalls ist allen Damaskusberichten gemeinsam, daß die Wende völlig unerwartet und rein als Werk des souveränen Herrn geschieht. Auch im nächsten Abschnitt sind sich die Ausleger einig: Der Bekehrte wird sofort wirksam und verbreitet das Evangelium; „unter den Heiden“ wie unsere Gaiater-Stelle sagt oder in der Sicht des Römerbriefes 1,14 „als Schuldner der Griechen und der Barbaren“.
Damit ist gleich im Eingang dieser Briefe die in der Berufung erfahrene Eigenständigkeit Pauli als Thema angeschlagen, das uns auf seinem Weg noch oft begegnen wird.
Laut Apostelgeschichte in Damaskus, nach dem Selbstzeugnis des Galater-briefes aber in Arabien ist hier also nicht an eine Meditationsphase zu denken, wie sich das in der Wüsteneinsamkeit schön ausmalen ließe und gar in Parallele zur Taufe Jesu am Jordan stehen würde. Vielmehr ist an eine Mission in den Städten des heutigen Syrien und Jordanien zu denken. Das Ausbleiben irgendwelcher Nachrichten wird damit erklärt, daß sich hier kein Missionserfolg einstellte. Zu der genannten Rückkehr nach Damaskus treffen sich dann Apostelgeschichte 9 und 2. Korintherbrief 11,32: Er erregte großes Aufsehen in der Stadt und wurde gesucht. Um der Bewachung der Stadttore zu entgehen, wird er in einem Korb von der Stadtmauer abgeseilt. – Das ist natürlich eine sehr bildhafte Szene, die in der Kunst des Mittelalters gern dargestellt wird – Tresmontant zeigt sie in den Mosaiken von Monreale -und die im östlichen Mönchtum ähnlich tagtäglich nacherlebt wurde -denken wir an Meteora- oder Athosklöster!
Doch warum sollen wir nicht selbst im Geiste mit in den Korb einsteigen und uns für einige Augenblicke in Paulus hineindenken? – Jetzt, wo wir ja unterwegs sind zu dieser Stadtmauer – und wo hier endlich einmal alles stimmt: Historisch kritisch ist das Ereignis gesichert, es wird nicht als Allegorie in Frage gestellt, es braucht nicht entmythologisiert zu werden. Und doch spricht dieses Bild zu uns, sehr direkt und so modern, daß wir für unsere Betrachtung Gedankensplitter im Zeitungsstil formulieren können:
Zwischen Himmel und Erde
Wenn alle Stricke reißen ?
Ein Schleichweg der Weltgeschichte
Eine Nacht- und Nebelaktion
Institutionen werden überwunden
Hierarchie, Bürokratie und Denuntiantentum übergangen
Nichteinhaltung des Dienstweges
Die Vorschriften haben das„Nach-Sehen“.
Der einsame Mann, der seit seiner Krise, vor dieser Mauer, wenige ruhige Stunden gefunden hat – und der, sagen wir’s uns im Alltag zum Trost, noch weniger Erfolge gehabt hat – er kommt uns hier an der Mauer als bildhafter Außenseiter entgegen! Mit dem heilen Ankommen unten ist auch noch nicht alles geschafft: Die Umgebung von Damaskus ist unwirtlich. Straßen werden ja kontrolliert; also
bleibt nur die Flucht durch Wüste und Berge . . .
Doch das Wichtigste kommt noch: Wie wird er in Jerusalem empfangen? –
Er versucht, sich den Jüngern anzuschließen – doch sie trauen ihm nicht –
das sagt sogar die harmonisierende Apostelgeschichte. Steht da nicht einiges
zwischen den Zeilen?
Allein der Zypriot Barnabas überwindet das Mißtrauen und führt ihn zu den
Aposteln – laut Paulinen allein zu Kephas.
Ob sie sich gleich verstanden haben, der bodenständige galiläische Fischer
und der akademisch gebildete römische Bürger aus dem hellenistischen
Tarsus? – Hierzu ein Zitat aus Bornkamm:
„ Was gäbe man darum, Zuverlässiges über diese erste denkwürdige Begegnung zwischen Paulus und Petrus, dem erstberufenen Jünger Jesu, zu erfahren.“
Nachdem er zwei Wochen da war und noch den Jakobus sah, hören wir schon, daß hellenistische Juden ihm nachstellen und ihn töten wollen. Die Apostelgeschichte zeigt dann in vorbildlicher Manier, wie man solidarisch mit verfolgten Brüdern ist: Jünger begleiten ihn bis hinab nach Cäsarea; das sind immerhin 50 Meilen Luftlinie ein Weg!
Der „ Weg“ – sein Weg der nächsten 14 Jahre
Cäsarea, südlich von Haifa war ja die Hauptstadt der römischen Provinz Judäa und besaß seit Herodes dem Großen den besten Hafen weit und breit. Es legt sich also nahe, daß Saulus die Reise nach Tarsus zur See antritt. So haben sich hier Wege getrennt: Die Apostelgeschichte schaltet hier zurück auf die Jerusalemer und Petrus. Es wird kaum ein Zufall sein, daß hier nun die genannte Parallele zur Berufung Pauli berichtet wird: Wie der Heilige Geist Petrus veranlaßt, die Unbeschnittenen im Hause des römischen Hauptmannes Cornelius zu Gisarea zu taufen. Und wie Petrus sich in Jerusalem vor den anderen Judenchristen rechtfertigt. Folgerichtig erfahren wir dann, daß das Evangelium auch in unserem Reiseziel Antiochia am Orontes über hellenistische Juden aus Zypern sich den „Griechen“ zuwendet: Jerusalem sendet den Barnabas – zur Inspektion, liest Bornkamm zwischen den Zeilen der Apostelgeschichte. Der vielen Glaubensinteressenten wegen holt der dann den Mann aus Tarsus zur Hilfe.
Nach einem Jahr Gemeindearbeit in der damals drittgrößten Stadt des römischen Reiches wird eine bevorstehende Hungersnot angesagt. Die Gemeinde der „Christen“, wie sie hier in der Apostelgeschichte 11,26 erstmals genannt werden, beschließt, die Brüder in Jerusalem durch eine Kollekte zu unterstützen, die Barnabas und Saulus überbringen.
Eine weitere Verzahnung zwischen den beiden Aktionszentren, dem jüdischen und dem heidenchristlichen, erreicht die Apostelgeschichte in dem folgenden Kapitel über die Gefangennahme und wunderbare Errettung des Petrus. An diese schließt sich die erste Missionsreise des Barnabas und Saulus in den Kapiteln 13 und 14 an.
Die Paulinen bleiben für diesen Zeitraum sehr knapp: Der Autor wendet sich von Petrus kommend seiner Heimat zu und verkündet den Glauben. Vierzehn Jahre später, sagt er im Galaterbrief, sei er wieder nach Jerusalem hinaufgegangen, mit Barnabas und dem unbeschnittenen Titus. Dort, beim sogenannten Apostelkonzil, muß es um die Geltung des mosaischen Gesetzes für die Heidenchristen gegangen sein.
Es ist zu beobachten, daß die beiden Quellenstränge Apostelgeschichte und Paulinen sich nicht immer ergänzen lassen, sondern sich auch zuweilen widersprechen. Wenn man nun im Zweifelsfall die Selbstzeugnisse des Paulus höher bewertet, kann man zu folgender Rekonstruktion der Geschehnisse gelangen (jeweils n. Chr.):
32 Berufung; nach drei Jahren in Arabien
35 Treffen mit Petrus und Jakobus, vermittelt durch den ihm näher stehenden Barnabas, anschließend vierzehn Jahre Mission in Cilicien und Nordsyrien
47 von Barnabas nach Antiochien geholt, aus dem Erfolg gemeinsamer
Tätigkeit und der Unterstützung einer großen Gemeinde heraus
48 Erste Missionsreise. Die dort geübte Praxis der Befreiung vom mosaischen Gesetz für Heidenchristen führt zu Anschuldigungen vor den Alt
Aposteln und zum sogenannten Apostelkonzil im Frühjahr 49 n. Chr.
Abgrenzung der Missionsbereiche und Kollektenbeschluß.
Nach der Rückkehr sogenannter „Antiochenischer Zwischenfall: Petrus hält die Mahlgemeinschaft mit Heidenchristen nicht durch und Paulus widersteht ihm.
49 bis Sommer 51 in Korinth. Zweite Missionsreise ohne Barnabas; angeblich wegen verschiedener Meinungen über den Reisebegleiter Johannes Markus, vielleicht aber auch über Petrus und die Jerusalemer?
Hier wollen wir die Chronologie auf sich beruhen lassen und uns mit auf die Reise begeben zu den besuchten Orten:
Die erste Missionsreise
Paulus und Barnabas, die da von der Gemeinde Antiochien ausgesandt werden, bringen für ihr erstes Ziel gute Voraussetzungen mit: Die Insel Cypern ist die Heimat des Barnabas und auch Paulus trifft auf ein Land, das mit seiner Heimat Cilicien in vielerlei Beziehungen steht: Seit dem 7. Jahrhundert durch Kolonien griechisch beeinflußt, standen beide unter persicher, alexandrinischer und ptolemäischer Herrschaft. Wahrend des Triumvirats, im Jahre 58 v. Chr., kamen beide Länder unter römische Herrschaft und wurden sogar zu einer Privinz mit Tarsus als Hauptstadt zusammengefaßt. Auch sind spätestens zur Ptolemäerzeit jüdische Gemeinden entstanden. Also besuchen die Missionare die Synagogen auf ihrer Wanderung längs der Insel. In Paphos an der Westküste ereignet sich dann die Auseinandersetzung mit dem Magier des römischen Statthalters Sergius Paulus. Da er dem Glauben an den Herrn widerspricht, wird er von Saulus mit Blindheit geschlagen – worauf der Proconsul zum Glauben kommt. Ob wir darin ein Gegenstück zur Bekehrung des römischen Hauptmanns Cornelius in Cäsarea sehen sollen? – Jedenfalls wechselt die Apostelgeschichte hier vom Namen Saulus auf Paulus.
Das erfolgreiche Team setzt über nach Pamphylien, also die türkische Südküste und kommt nach Perge. Johannes Markus trennt sich, ohne daß wir den Grund erfahren. Die beiden aber ziehen hinauf nach Antiochien in Pisidien; 250 Kilometer nördlich und 1 100 Meter hoch, damals in der römischen Provinz Galatien.
Hier bietet die Apostelgeschichte eine große Synagogenpredigt: Paulus will zeigen, daß Jesus der von den Propheten vorhergesagte Messias ist. Dazu
stellt er den berufenen aber verstorbenen jüdischen Vätern den auferstandenen Jesus gegenüber. Interessant ist die Reaktion der Hörer. Sie wollen noch mehr hören und verpflichten die Wanderprediger auf den nächsten Sabbath. Als an diesem die ganze Stadt zur Predigt drängt, schlägt das Interesse in Eifersucht um: die Gäste werden von den Synagogenjuden geschmäht. In den folgenden Versen 13,46-48 erreicht das Werk einen bedeutsamen Wendepunkt, der im Zitat lautet:
„Da erklärten Paulus und Barnabas offen heraus: Euch maßte zuerst das Wort Gottes gepredigt werden. Weil ihr es aber abweist und euch selbst des ewigen Lebens nicht wert erachtet, wenden wir uns an die Heiden. Denn so hat uns der Herr befohlen: Ach habe dich zum Licht der Heiden bestimmt, du sollst zum Heile dienen bis an der Erde Grenzen‚. Als die Heiden dies hörten, freuten sie sich und priesen das Won des Herrn; und alle, die zum ewigen Leben bestimmt waren, wurden gläubig.“
Beim Hören dieser Zeilen, die die Zuwendung des Heiles zu den Heiden beschreiben, denkt man unwillkürlich an die Paulinen, besonders den Römerbrief, wo Paulus die Verstocktheit der Juden erklärt. Vor der Wut der Juden müssen die Verkünder Jesu nach Ikonium fliehen, der Hauptstadt Lykaoniens. Diese Stadt besteht im Gegensatz zum pisidischen Antiochia heute noch als Konya und ist in der Türkei berühmt wegen ihrer muslimischen Mönche, den tanzenden Derwischen. Hier wiederholen sich die Vorgänge, und die Missionare fliehen gut 40 Kilometer weiter nach Lystra. Dort ereignet sich nun eine echt antike Geschichte: Paulus heilt einen seit Geburt Gelähmten, und die Umstehenden sehen deshalb in den Predigern Götter: In Paulus – als Wortführer – den Hermes und in Barnabas – vielleicht nach Statur der größere – den Zeus.
Man kann sich vorstellen, wie die Köpfe der Exegeten hier zu arbeiten beginnen. Klar ist: An der Südgrenze der Provinz zu Füßen des wilden Taurus lebte man ein bißchen hinter dem Mond. Vielleicht wurde das Griechisch der Prediger auch gar nicht gut verstanden. Präsent aber war hier in Anatolien die Geschichte von Philemon und Baucis, die uns Ovid überliefert hat und in der die nämlichen Götter auftreten. Das Wunder führt aber schnell zum anderen Extrem: Von den Missionaren enttäuscht, die die Ehrung entsetzt zurückweisen und durch Boten aus Antiochia und Ikonium aufgewiegelt, wird Paulus gesteinigt. Für tot gehalten, steht er nach dem Abzug der aufgebrachten Menge wieder auf und flieht mit Barnabas nach dem benachbarten Derbe.
Wir sollten die Leute in Lystra aber nicht zu schlecht einschätzen, denn Paulus gewann von dort immerhin seinen späteren Mitarbeiter Timotheus. Derbe ist bis heute nicht sicher lokalisiert. – Als einzigem Wirkungsort werden die beiden hier nicht vertrieben, und viele, wird berichtet, seien zum Glauben gekommen.
Nun erfährt die Reise eine eigenartige Wende: Statt in die gleiche Richtung über einen der Taurus-Pässe – etwa die Kilikische Pforte – und Tarsus zurückzuwandern, gehen die beiden die ganze Strecke rückwärts, wobei die gegründeten Gemeinden noch einmal aufgesucht, mit Zuspruch und mit Gemeindeältesten versehen werden. Von Attalia – unserem Anlegehafen Antalya – segeln sie dann nach Syrien zurück.
Man muß zugeben, daß dieser Ausgang der Reise recht schematisch wirkt. Es erscheint denkbar, daß dem Verfasser der Apostelgeschichte hier die Unterlagen ausgingen und daß er sie anachronistisch ergänzt hat; das heißt von einer späteren Zeit aus betrachtet! – Die Einsetzung von Ältesten war nämlich zur Zeit des Lukas, aber kaum in der Mitte des 1. Jahrhunderts. Einige sehr kritische Forscher halten deshalb die ganze erste Missionsreise für eine Doublette: Lukas habe parallele Überlieferungen der zweiten oder dritten Reise nicht als solche erkannt und so eine Reise zu viel in die Apostelgeschichte gesetzt.
Ich muß gestehen -, ich habe mich gefreut, in dem doch sehr gewissenhaften Kommentar von Haenchen zu lesen, daß er diese Absicht ablehnt und eine viel einfachere Korrektur vorschlägt: Die Reise habe erst nach der großen Besprechung zu Jerusalem stattgefunden, bei der es um die Anerkennung der Gesetzesfreiheit für die Heidenchristen ging. Motiv für die Umstellung in der Apostelgeschichte könne gewesen sein, daß der Verfasser zuerst den Paulus als den erfolgreichen Heidenmissionar zeigen wollte, bevor er auf dem sogenannten Apostelkonzil eine bedeutende Rolle spielen sollte. Diese Erklärung hat für sich, daß die Aussendung der Missionare von Antiochien aus mit der Rückendeckung der Jerusalemer Urgemeinde stattgefunden hätte.
Tatsache ist jedenfalls, daß Kapitel 15 die Auseinandersetzungen um die Heidenmission in für Lukas üblicher, vornehmer Weise zeigt, wobei Petrus
und Jakobus den Ausschlag geben. Dies stimmt doch recht gut mit Galater 2 überein, wo Paulus die genannten zusammen mit Johannes als die „Säulen der Gemeinde“ tituliert.
Allerdings schließt sich hier im Galaterbrief der in aller Schärfe oder zumindest Entschiedenheit gezeichnete Konflikt in Antiochia an. Da diese Stelle doch recht geeignet erscheint, das Denken des Paulus näher kennenzulernen, soll Galater 2,11-16 hier zitiert werden:
„Als dann Kephas nach Antiochien kam, trat ich ihm Auge in Auge entgegen, weil er im Unrecht war. Bevor nämlich einige Leute von Jakobus her kamen, hielt er Tischgemeinsähaften mit den Heiden. Als sie aber erschienen, sonderte er sich ab aus Furcht vor den Beschnittenen. Und an seiner Vorstellung beteilig ten sich auch die übrigen Juden, so daß selbst Barnabas sich von ihrer Vorstellungfortreißen ließ. Als ich nun sah, daß sie nicht recht wandelten nach der Wahrheit des Evangeliums, sagte ich in Gegenwart aller zu Petrus: Wenn du al Jude heidnisch und nicht jüdisch lebst, wie kannst du da die Heiden zwingen, jüdischen Brauch zu beobachten?
Wir sind von Geburt Juden und nicht von den Heiden abstammende Sünder. L wir aber wissen, daß kein Mensch gerechtfertigt wird auf Grund von Gesetzeswerken, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus, so sind wir zum Glauben an Jesus Christus gekommen, damit wir eben auf Grund des Glaubet an Christus und nicht auf Grund von Gesetzeswerken Rechtfertigung erlangten denn aus Gesetzeswerken wird Mein Mensch gerechtfertigt werden‘.“ (Hier nimmt Paulus Bezug auf Psalm 143,2 der lautet: „Ist doch keiner der Lebenden vor Dir gerecht“).
Manche Forscher sehen nun einen Zusammenhang zwischen diesem Konflikt und dem Umstand, daß vor der zweiten Reise Barnabas und Paulus sich entzweien, was in der Apostelgeschichte als Meinungsverschiedenheitwegen des Reisebegleiters Johannes Markus erscheint.
Die zweite und dritte Missionsreise
Während Barnabas mit Markus nach Zypern geht, wählt sich Paulus den Silas und sucht auf dem Landweg die Gründungen der ersten Reise auf. Dabei nimmt er, wie erwähnt, in Lystra noch den Timotheus mit. Nur die Apostelgeschichte berichtet, daß Paulus ihn beschneiden ließ. Da er einer Mischehe entstammte, entsprach dies jüdischer Vorschrift, die offensichtlich im Diaspora-Judentum nicht immer streng eingehalten wurde. Die Apostelgeschichte bemüht sich, stets den tadellosen Juden in Paulus zu zeigen, ebenso die Konflikte zu harmonisieren und hier z. B. eine zuvorkommende Friedfertigkeit zu demonstrieren.
Die Drei weichen in Antiochien in Pisidien von der üblichen Route ab, die von dort einem der großen Flüsse nach Westen nach zu den Großstädten der Provinz Asia führt: Der heilige Geist läßt sie zwischen den dichter besiedelten Gebieten Asia und Bithynien durch das herbe Phrygien und Galatien marschieren.
Obwohl die Apostelgeschichte hier nichts von Predigt oder Gemeindegründung berichtet, ist dies doch ziemlich wahrscheinlich, denn die spätere Reise berührt viele Punkte und dort heißt es dann „er stärkte alle Brüder“‚(18,3). .Andererseits gab es dort oben die wenigsten Juden, so daß kaum denkbar ist, woher sonst das frühe östliche Christentum herstammen sollte als von der zweiten Reise.
Als Grund für die knappe Schilderung kann der Fortgang der zweiten Reise gesehen werden: In Alexandria Troas, also der 40 Kilometer südlich des berühmten Hügels gelegenen hellenistischen Hafenstadt, ereignet sich der bekannte Traum vom herüberrufenden Makedonien In Zusammenhang mit der merkwürdig gerafften Art, wie die Apostelgeschichte uns mit den dreien durch ganz Kleinasien jagt, ist der Traum klar zu deuten: Jesus will, daß Paulus das Evangelium in Europa verkündet. Bis in sprachliche Hintergründe hinein kann das bei unserem Doktor Elliger im wahrsten Sinne des Wortes „philologisch“ nachgelesen werden. Wir finden dort auch angenehmer als in dicken Bibelkommentaren erklärt, daß mit dem geographischen Übergang ein weiterer Schritt der Hinwendung zu den Heiden erfolgt. Tatsächlich können wir uns an eine Reihe vorbereitender Etappen erinnern: In völlig eigener Verantwortung möchte ich hier gleich bei Lukas 7 einsetzen, wo Jesus beim römischen Hauptmann von Kapharnaum einen größeren Glauben findet als irgend sonst in Israel. Die Matthäus-Parallele deutet denn auch aus, daß die Heiden das Himmelreich beziehen, die Söhne des Reiches aber ausgestoßen werden (8,11 f.). In der Apostelgeschichte nun läßt der Geist an Pfingsten die Großtaten Gottes in allen Sprachen verkünden.
Dann kommt der Geist über das heidnische Haus des römischen Hauptmannes Cornelius nach dem vorbereitenden Traumgesicht des Petrus. Es folgt die Überzeugung des römischen Proconsuls von Zypern. Daraufhin lehnt das Gros der Juden auf der ersten Missionsreise des Paulus die frohe Botschaft ab, aber „unter den Heiden wird den Gläubigen täglich eine große Zahl hinzugefugt“. Schließlich vergegenwärtigen wir uns, daß die Apostelgeschichte den Weg des Paulus und in ihm die Verkündigung des Evangeliums in Rom zum Abschluß kommen läßt. Wir werden uns am Ende unserer Betrachtung auch die in diesem Zusammenhang stehenden letzten Worte Pauli anschauen, die die Apostelgeschichte ihn sprechen läßt. Hier wird allenfalls klar, daß der Schritt hinüber nach Europa ein wichtiger Schritt auf dem Wege des Paulus war. Dementsprechend werden die Vorgänge nach der Landung im heutigen Kavalla und der Ankunft in Philippi ausführlich geschildert.
Ich gestehe, daß ich diesen Abschnitt im gymnasialen Religionsunterricht sehr gerne behandle: Zur Ermunterung, in der Kirche eine aktive Rolle zu spielen, sollen die Mädchen ruhig einmal lesen, daß im Missionswerk des Paulus der erste Europäer, dem der Heilige Geist das Herz aufschloß und der getauft wurde, eine Frau war. Ja, wir lesen sogar, daß die Purpurhändlerin Lydia in ihrem Haus die erste europäische Paulusgemeinde beherbergte. Aus dieser sollte sich die Lieblingsgemeinde des Paulus entwickeln, von der er zeitlebens als einziger Unterstützung annahm, während er sonst – wohl um sich von weniger uneigennützigen Propheten abzuheben – seinen Lebensunterhalt mit seinem Handwerkerberuf als Zeltmacher verdiente. Was nun den Religionsunterricht und die Stellung der Frau in der Kirche angeht, so findet sich freilich oft ein vorwitziges Bürschchen, das da -ausnahmsweise – ein Bibelzitat parat hat im Sinne von „die Frauen hätten in der Kirche zu schweigen“.
Da gilt es dann 1. Korinther 13,34 aufzuschlagen und zu zeigen, daß die Stelle in Spannung steht zu solchen, die die Gabe der Prophetie auch bei Frauen ausdrücklich anerkennen. Wir einigen uns dann meist darauf, daß ganz speziell in Korinth einige hysterische Damen ihr Unwesen trieben und die Gemeinde von deren Störung im Gottesdienst erst durch das Wort Pauli in seinem Sendschreiben erlöst werden konnte.
Nun bietet Philippi außer dieser frauenemanzipatorischen Perspektive noch eine weitere: Daß die Missionare nach ihrer Landung sich gleich dorthin und nicht etwa nach dem größeren Amphipolis wendeten! Amphipolis mag manchem als Wirkungsort des Tukydides bekannt sein, aber Philippi war -nach der berühmten Schlacht – römische Kolonie. Wieder ein Hinweis auf das Ziel der Apostelgeschichte, den Weg des Paulus in den vielen, weiten Wegen.
Belege für diese Interpretation finden sich in den Briefen, etwa gleich in der Anrede Römer 1,13, wo er anführt, sein Kommen schon lange geplant zu haben, aber verhindert gewesen zu sein.
Eigenartig mutet der Anlaß zum Verlassen Philippis an: Paulus treibt den Geist aus, der eine Sklavin veranlaßt, ständig hinter den Missionaren herzulaufen und zu rufen, daß diese die Männer Gottes seien, die den Menschen das Heil verkündeten. Nach dem Exorzismus verklagt deren Besitzer die drei; aber nicht wegen Geschäftsschädigung, sondern wegen Unruhestiftung, wie wir das von früheren Orten her kennen. – Und warum sollte Paulus sich eigentlich an der nicht bestellten Reklame gestört haben, so daß er sie qua Wunderheilung abstellte?
Am naheliegendsten scheint, sich vorzustellen, daß die Aussagen der Sklavin gar nicht so günstig waren und von Lukas geschönt wurden; etwa um auch durch diese bedauernswerte Kreatur die Verkündigung stattfinden zu lassen. Es ist nämlich eine im Orient noch heute weit verbreitete Vorstellung, daß Gott sich gerade auch des Mundes von Psychopathen bediene. Wie dem auch sei, die Missionare werden ins Gefängnis gebracht. Ihr Singen und Beten läßt aber die Ketten und Türen sich öffnen. Auf dieses Wunder hin kommt der Gefängnisaufseher zum Glauben; der Stadtrat jedoch zur Einsicht seiner Fehlentscheidung. Er will die merkwürdigen Wanderer nun klammheimlich abziehen lassen. Aber da tut Paulus nicht mit: Zum ersten Mal bringt er seine römische Staatsbürgerschaft ins Spiel. Da bekommen die Beamten Angst. Die Herren Stadtverordneten müssen sich selbst ins Gefängnis bemühen und sich entschuldigen. Die drei Männer aberziehen ehrenvoll ab, nicht ohne vorher dem Haus der Lydia einen Abschiedsbesuch abzustatten. Vielleicht denkt ein heutiger Hörer. Paulus sei wohl „ehrenkäsig“ oder gar ein „Beamtenschreck“ gewesen. Doch wir sollten nicht übersehen, daß es hier um das Ansehen der zurückgelassenen Gläubigen geht und daß Paulus auch wiederkommt!
Die nächste Station ist Thessaloniki. Hier müssen wir uns endlich einen Begriff anschauen, der in der Mission eine große Bedeutung immer dort
haue, wo, wie in „Thessaloniki, eine Synagoge besteht: Da ist dann von „Gottesgläubigen“, „Gottesverehrern“ oder ähnlichem die Rede. Dabei handelt es sich um ethisch ernsthafte NichtJuden, die von der Bibel und ihrer lebenspraktischen Auswirkung bei den Juden angezogen waren, zum vollen Judentum aber wegen der Schwierigkeit der Beachtung aller Einzelgebote oder auch aus öffentlichen Gründen nicht übertreten konnten oder wollten. Sie gehörten eher den gebildeten, einflußreichen und wohlhabenden Schichten an und waren auch so den Juden als Gäste in den Synagogen durchaus willkommen. Kein Wunder, daß unter dieser Menschengruppe die Predigt des Paulus besonderen Anklang fand. Einerseits sprach er genau von dem Gott und dem Heil, das sie in den antiken Kulten nicht gefunden hatten, andererseits aber von der Freiheit vom Gesetz, das ihnen den Eintritt ins Judentum verbaut hatte. Wir können uns aber auch leicht vorstellen, wie wenig begeistert die Juden ihrerseits von Paulus gewesen sein müssen, der sich als Jude unter Juden mischt, die Synagoge als Anlaufstelle, als Plattform benutzt, um ihr im Endeffekt die meisten Kandidaten und manchmal auch Beitragszahler zu entfremden; oder einmal ganz modern gesagt – „abzusahnen und mit ihnen einen eigenen Laden aufzumachen‘1! Was nun in den Versen 17,5-9 als Reaktion der Juden auf das Auftreten Pauli berichtet wird, entspricht ziemlich den Verhaltensweisen, die wir als junge Männer gezeigt hätten, wenn uns beim Tanzkurs die Jungen vom Nachbarort die Mädchen ausgespannt hätten. Man verzeihe diese mehr der Jugendarbeit als der Theologie entsprossene Sprache, aber vielleicht gibt diese doch auch einigen Erwachsenen einen Impuls, einfach unter ganz lebenspraktischer Sicht in der Bibel zu lesen.
Die Anhänger der neuen Lehre geleiten die der Stadt verwiesenen Missionare im Schutz der Nacht nach Berröa. Heute als Verria eine völlig unauffällige Provinzstadt, war sie damals Sitz des angesehenen Makedonischen Bundes, dem der Kaiserkult oblag. Andererseits lag sie abseits der Via Egnatia, der die Missionare seit Philippi gefolgt waren und damit etwas abseits des Zugriffs der staatlichen Vollzugsorgane. So läuft die Mission hier ausgezeichnet, bis das alte Lied wieder anhebt: Juden aus Thessaloniki hören vom Erfolg und hetzen das Volk auf, unter dem wir uns sicher bezahlte Schreier vorstellen müssen, die gar nicht wußten, um was es ging. Aber auch sie haben ihre Bedeutung, denn sie bringen die Verkündigung weiter; zu einem Höhepunkt, der vielleicht gar nicht geplant war.
Manche Fachleute gehen nämlich davon aus, daß das Team auf der Via Egnatia auf dem Weg nach Rom war. Wir hörten schon, daß viele Stellen in den Paulinen dies stützen. Durch die Ereignisse waren sie von dieser Straße und damit vielleicht auch von diesem Weg im übertragenen Sinne abgekommen. Von den feindselig eingestellten Synagogen durchgemeldet, wäre Paulus wohl unter den ungünstigsten Bedingungen nach Rom gekommen. Aber wir haben doch ein viel bündigeres deutsches Sprichwort, das den Sachverhalt knapp und gläubig wiedergibt: „Der Mensch denkt und Gott lenkt“. Ist das nicht der Weg des Paulus, den wir ausgezogen sind, ein Stück weit nachzugehen und in unser Leben hereinzuholen? Er wendet sich zum thermaischen Golf, von wo er sich nach Athen einschifft. Damals wie heute erregt die Nennung dieser Stadt die ganze Aufmerksamkeit der Zuhörer, denn sie wissen, daß in ihr die Gegenüberstellung des Evangeliums mit der geschulten Weisheit dieser Welt bevorsteht. Und wenn wir uns auch nur ein wenig mit diesem einsamen Mann identifizieren, der er unternimmt, mit der paradoxen Botschaft vom Kreuz an diesem Zentrum der Gelehrsamkeit und Beredsamkeit aufzutreten, dann teilt er unsere Sympathie, unser Mitgefühl! Später hat er die Situation in die berühmten Worte gefaßt (1. Korinther 1,17—25):
„Christus hat mich ja nicht ausgesandt zu taufen, sondern die Heilsbotschaft zu verkünden, und zwar nicht in Weisheit der Rede, damit das Kreuz Christi nicht zunichte gemacht werde…“
Nach der Entwicklung der Dialektik von Weisheit der Welt und Torheit in Gott folgt seine Kennzeichnung der Aufgabe:
„Predigen wir Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit; den Berufenen aber, Juden wie Griechen. Christus als Gottes Kraft und Weisheit.“
Wenn wir uns da ein bißchen hineindenken, müssen wir doch auch die Komposition der Apostelgeschichte bewundern in ihrer Areopag-Rede: Egal. wie historisch-faktisch sie ist; wahr ist sie im Sinne der Übereinstimmung von Aussageabsicht und ihren Bedingungen.
Schließlich möchte ich noch eigens ihren geschickt gewählten pädagogischen Ansatzpunkt hervorheben: Das Eingangswort über die Altarwidmung an den unbekannten Gott.
Daß, trotzdem, der Erfolg der großartigen Rede als bescheiden zu bezeichnen ist, versteht sich leicht, wenn man sich ein klein wenig das damalige Athen vorstellt. Schon die Absage an die Gottesverehrung in Tempeln und an .Altären gefällt nicht in einer Stadt, die gerade darin sich sehr bemühte und deshalb den Ruf großer Frömmigkeit besaß – immerhin wird weiterhin an Tempeln gebaut!
Wenn dann aber die Auferstehung gepredigt wird, können die Athener nicht mehr zuhören. Weiterleben nach dem Tod wird ja im Gegensatz zur altgriechischen Religion in allerlei konkurrierenden Mysterienkulten verhießen, etwa gleich im benachbarten Eleusis. Doch denkt man hier an ein Weiterleben der Seele, die sich vom Körper getrennt hat!
Wenn uns am Ende der Athener Ereignisse berichtet wird, es seien nur einige zum Glauben gekommen, darunter aber ein Mitglied des in römischer Zeit wieder hoch geachteten Areopages, dann müssen wir das nicht unbedingt historisch nehmen. Nehmen wir dies vielleicht besser als eine dem Lukas gemäße Ausdrucksform für das, was wir alle meinen, aber heute anders ausdrücken würden: Daß Paulus gut Zeugnis abgelegt hat in der Stadt des Weltgeistes!
Wir nähern uns nun mit ihm bekanntem Territorium: Korinth war noch kein Jahrhundert wiedererbaut, eine reiche, neue, glänzende Stadt – mit viel Schatten. Der florierende Handel an der einmalig günstigen Stelle am Isthmus zwischen dem Golf und der Ägäis läßt eine bunt gemischte Bevölkerung entstehen. Von den reichsten Großhändlern, Reedern und Fabrikanten bis zum abgerissensten Seemann auf der Durchreise, Lastträger und Tag-löhner.
Allein schon aus dem Umstand, daß wir von den vier Briefen des Paulus an diese Gemeinde wissen, ergibt sich, daß er hier überdauernde Resonanz hatte. Anderthalb Jahre ist er hier geblieben, mit einigem Erfolg auch bei Juden. Der Synagogenvorsteher Crispus und sein Nachbar Justus werden genannt. Wenn diese auch ebenso wenig wie das Zeltmacher-Ehepaar Aquila und Priszilla in außerbiblischen Quellen belegt werden können, so spricht doch nichts gegen die Intention der Apostelgeschichte, einen Erfolg des Paulus und des Christentums in Korinth persönlich festzumachen. Crispus erscheint in 1. Korinther 1,14 als von Paulus selbst getauft, das Zeltmacherehepaar in der Grußliste Römer 16, und der Verfasser der Apostelgeschichte konnte ja nicht wissen, welche Briefe wir zum Vergleich haben würden.
Andererseits hat er leider nicht mit aufgenommen, welche Briefe Paulus wann und wo geschrieben hat.
Für den ersten überlieferten Paulusbrief kann aus den vorliegenden Erkenntnissen recht sicher die Abfassung um 50 n. Chr. in Korinth geschlossen werden. Die Begegnung mit dem vermutlich neu ernannten Proconsul Gallio, die sich später als so wichtig für die Datierung erwies, führt die Apostelgeschichte über dessen Amtssitz, das wieder ausgegrabene „bema“ und den Osthafen Kenchrä weiter.
Ein Beispiel beeindruckender Solidarität begegnet uns in dem Ehepaar Aquila und Priszilla. Hatten sie Paulus schon in Korinth Arbeit und Wohnung geboten, so nehmen sie ihn nun mit nach Ephesus, um ihn auch dort zu unterstützen.
Paulus will aber vorher noch seine Muttergemeinde Antiochien aufsuchen. Ob er, da seine Seereise in Cäsarea endete, dabei einen Besuch in Jerusalem abstattete, ist aus der Apostelgeschichte nicht zu ersehen und nach dem Galaterbrief unwahrscheinlich. Plausibel ist aber, daß er in Antiochien den Winter verbrachte und dann die von ihm gegründeten Gemeinden Kleinasiens wiederum aufgesucht haben wird. Die Apostelgeschichte macht hier auch gar keinen Einschnitt, lediglich spätere Zählung und Kartenmalerei setzt hier eine Zäsur als dritte Missionsreise.
Wir könnten ebenso gut von einer Missionstätigkeit mit den Hauptetappen Cilicien, Syrien, Korinth und Ephesus sprechen.
Dorthin also, wo er wohl vorhatte von Pisidien aus hinzuziehen und von wo der Geist ihn abgehalten hatte, wendet er sich jetzt. Dort sind bereits Jünger, denen zwar eine Wassertaufe, aber noch nicht der Heilige Geist gespendet wurde. Paulus zeigt durch Handauflegung und verschiedene Wunder die „Wirklichkeit“ dieses Geistes. Dies erregt Aufsehen in der Hauptstadt der Provinz Asia, und einige jüdische Wanderzauberer versuchen sich im Dämonenaustreiben mittels der Namen Jesus und Paulus. Die Dämonen aber wenden sich gegen die Zauberer, indem sie Jesus und Paulus bekennen, doch die unberufenen Exorzisten übel zurichten. Wir denken unwillkürlich an Goethes Zauberlehrling. Doch der Vorgang ist recht glaubwürdig; es gibt außerbiblische Belege für umherziehende jüdische Zauberer, und ihre geschilderten Verhaltensweisen entsprechen altem magischem Denken, wo der Zauber ausschließlich auf dem richtigen Aussprechen der richtigen Worte beruht.
Der Ausgang der Geschichte ist klar von der verallgemeinernden Verkündigungsabsicht eines Lukas geprägt; im Kapitel 19,17 lesen wir:
„Das wurde allen Juden und Heiden, die in Ephesus wohnten, bekannt, und Furcht befiel alle; der Name des Herrn Jesus aber kam hoch zu Ehren.“
Im Anschluß an dieses Bekenntnis hören wir von einer großen Absage an die Magie und als deren äußere Bekundung von einer Bücherverbrennung. Doch trotz dieser für den christlichen Leser erbaulichen Wendungen sieht sich Paulus auch hier wieder Feindseligkeit gegenüber. Diesmal werden sie jedoch nicht von den Juden angezettelt, sondern von heidnischen Herstellern von Artemis-Devotionalien.
Ephesus beherbergt ja den berühmten Tempel dieser hellenisierten asiatischen Fruchtbarkeitsgöttin, und die Wallfahrt zu ihr war beachtlich. Ein gewisser Demetrius verkaufte silberne Abbildungen dieses Weltwunders und beschäftigte in einem Art Verlagssystem eine Reihe von Handwerkern. Wie der nun sein Geschäft in Gefahr sieht und seine Leute aufwiegelt, wie diese einen allgemeinen Wirbel in der Stadt verursachen, wie viele mitmachen, die gar nicht wissen um was es geht, und schließlich die ganze Menge zwei Stunden lang im Theater die Parole brüllt: „Groß ist die Artemis von Ephesus“ – das alles ist so echt und lebensvoll berichtet, daß ich nicht weiß, was ich mehr bewundern soll: Die Parallelität der Ereignisse zu Erlebnissen der Endsechziger Jahre an unseren Universitäten oder die schriftstellerische Begabung des Lukas!
Die Apostelgeschichte zeigt uns hier ausnahmsweise einen Paulus, der nicht mitten drin ist, sondern von den hier ziemlich zahlreichen Mitstreitern in sicherer Verwahrung gehalten wird. Immerhin hat sich in Ephesus selbst eine Ortstradition gehalten, die einen der Stadtbefestigungstürme als Paulusgefängnis zeigt. Außerdem wird heute angenommen, daß Paulus außer den Korintherbriefen und vielleicht dem an die Galater auch den Philipper- und Philemonbrief aus Ephesus gesandt hat. In den beiden letzteren gilt er aber als Gefangener.
In der Apostelgeschichte erfahren wir lediglich, daß Paulus die Gemeinden in Mazedonien und Achaia besuchen will. Eines der Motive dürfte die Entwicklung der Gemeinde von Korinth gewesen sein. Sie hatte sich zwar zahlenmäßig stark entwickelt und geistlich entfaltet, aber so reichlich, daß vor lauter begeisterten Charismatikern die Gemeinschaft zu zerbrechen drohte. Dabei hatten sich Weisheitslehren auf Kosten der Kreuzesbotschaft breitgemacht. Aus dieser Situation ist die berühmte Gegenüberstellung der Klugheit der Welt und der Weisheit im Ratschluß Gottes entstanden, die wir zu Beginn von 1. Korinther finden. Es ist nun möglich, daß Paulus nach Übersendung einer persönlichen Rechtfertigung (A) als ersten Teil von vier angenommenen Schreiben von Ephesus aus einmal direkt nach Korinth übergesetzt ist. Die Städte liegen sich ja fast gegenüber, und der Schiffsverkehr zwischen den Handelsmetropolen der Ägäis war rege. Dieser Kurzbesuch müßte recht unglücklich geendet haben, und Paulus sendet den Titus mit dem sogenannten „Tränenbrief‘ (B).
Einzelheiten zu solchen Vorgängen finden sich in 2. Korinther 2. Er selbst arbeitete einige Zeit in Alexandria Troas und reiste dann auf selbem Wege wie Jahre zuvor nach Mazedonien. In Philippi trifft er den Titus, der gute Nachrichten aus Korinth bringt. Dies veranlaßt Paulus zu einem Versöhnungsbrief (C). Schließlich könnte er kurz vor seiner Ankunft gegen Abschluß seiner zweiten Griechenlandreise sich noch einmal lobend und vorbereitend an die Korinther gewandt haben: Teil (D) in 2. Korinther. Kapitel 9,1 gibt darauf einen Hinweis mit Bezug auf die Kollekte, die Paulus bei dieser Fahrt für die Armen in Jerusalem betrieb. Wir können auf alle Fälle festhalten, daß 1. Korinther aus Ephesus stammt und die Vorgänge in Korinth zu mehrfachen Reise- und Briefaktionen Anlaß gaben, deren Niederschlag wir – so oder so – in 2. Korinther finden. Ebenso können wir festhalten, daß der Römerbrief in Korinth geschrieben wurde (1. Korinther 16,6). In Römer 15,25 legt er dar, daß er vor dem avisierten Besuch zuerst noch nach Jerusalem muß, unter anderem wegen der zu übergebenden Kollekte (ca. 55 n. Chr.). Vor allem aber, für uns heute wichtig, legt er hier seine Glaubensauftassung recht systematisch dar: Einer Gemeinde, die er nicht gegründet hat, die er also nicht persönlich kennt und bei der er auch keine Veranlassung hat, auf bestimmte Probleme oder Mißstände einzugehen.
Natürlich ist da von kritischen Geistern sogleich gefragt worden, warum Paulus der Gemeinde von Rom dann überhaupt einen Brief schreibt. Die Antwort muß wohl in die gleiche Richtung zielen wie die auf die Frage, warum er selbst denn dorthin will. Die Reise steht ja bald bevor – wenn auch etwas anders als wohl von Paulus geplant. Einen Vorgeschmack liefert schon die Abreise aus Korinth. Paulus will auf dem direkten Seeweg nach Syrien. Da wird ein geplanter Anschlag auf ihn bekannt, und er nimmt den viel weiteren und beschwerlicheren Landweg oben herum um die Ägäis. Dabei verbrachte er das Osterfest bei seiner Lieblingsgemeinde in Philippi – sie sehen sich das letzte Mal.
Für die Überfahrt braucht er fünf gegenüber einem Tag bei der Hinreise. Gegenwind symbolisiert das nahende Gewitter.
Überhaupt muß man kein Gelehrter sein, um die erzählerischen Mittel zu verspüren, mit denen Lukas hier den Weg Pauli parallel zum Weg Jesu in den synoptischen Evangelien gestaltet; der vom galiläischen Frühling in den tötlichen Jerusalemer Sommer führt.
Die bedrohliche Spannung wird durch einige schöne Ereignisse keineswegs aufgehoben, sondern gerade kontrastierend verstärkt. In Troas versammelt sich die Gemeinde um den Besucher, der am kommenden Tag abreisen will. Paulus spricht, es wird spät, Mitternacht ist vorüber. Da ist ein junger Mann im Fenster sitzend eingeschlafen und fällt hinunter – aus dem dritten Stock. Auf die Nachricht, er sei tot, nimmt Paulus ihn in die Arme und er lebt. Sie alle brechen das Brot und er lehrt sie bis Tagesanbruch. Freilich eine schöne Geschichte, vor allem für Lehrer, denen auch schon mal ein eingeschlafener Schüler vom Stuhl gefallen ist. Der Trost ist enorm. Kann man einen Religionslehrer tadeln, wenn sich so etwas unter den Zuhörern des großen Theologen und Völkerapostel ereignet hat9 – In meinem Unterricht kommt dieser Abschnitt aber in etwas anderer Intention zum Einsatz. Um das Schaukeln auf dem Stuhl zu untersagen; bei uns „Gautschen“ genannt. Dazu mache ich klar, daß nicht jeder Schüler ein Eutycher, frei übersetzt ein Glückspilz sein kann, und nicht jeder Religionslehrer ein Wunderheiler wie Paulus.
Auch die folgenden Verse zeigen einen Paulus, der mich persönlich interessiert, in den ich mich hineindenken kann. Da schickt er seine Begleiter voraus per Schiff nach Assos – er selbst wandert die Strecke allein. Es sind gute 40 Kilometer einer gerade im Frühjahr herrlichen Hügellandschaft mit vielen blühenden Mandel- und Kirschenbäumen zu dem an steilem Südhang gelegenen Ort. Dort bietet sich ein weiter Blick über das Meer und die Insel Mythilene. Paulus erscheint hier in der Tradition der Peripatetiker, die ein Problem umhergehend bewältigen und deren Lehrer Aristoteles ja zwei Jahre lang in Assos Schule hielt. Aber auch als Vorfahre des deutschen Wanderapostels Johann Gottlieb Seume, der so schön sagte: „Es ginge vieles besser, wenn man mehr ginge“ -und all der anderen, die am besten auf Wanderschaft meditieren.
Von Assos segelt man zusammen über Samos nach Milet, an Ephesus vorbei. Die Apostelgeschichte sagt, aus Eile, damit Paulus zum Pfingstfest Jerusalem erreiche. Eigenartig, daß er von Milet aus die Gemeindevorsteher aus Ephesus zu sich hin bittet. Der Landweg mißt gut 70 Kilometer, dazu kommt die schwierige Überquerung des Mäander; hin und zurück gibt das eher eine Verzögerung.
Es erscheint doch nahe liegender, daß Paulus am Kulthort der Artemis „persona non grata“ geblieben ist. Der Aufenthalt dort wird wohl nicht ganz so positiv gewesen sein, wie die Apostelgeschichte es darstellt, sondern auch ihren Teil der Leiden beinhaltet haben, die 2. Korinther 11 uns nennt. Die folgende Abschiedsrede von den Gemeindeältesten enthält, neben Ermahnungen für diese, einen Rechenschaftsbericht des Völkermissionars. Dabei fallen Leidensweissagungen auf, die an Jesus gemahnen, umso mehr, als der Redner mit einem Herrenwort schließt: „Geben ist seliger denn Nehmen.“~ Aus dieser Stimmung heraus ist auch der geschilderte Abschiedsschmerz verständlich.
Über Kos und Rhodos erreichen sie Patara in Lykien, wechseln das Schiff und segeln ins phönikische Tyros. Hier wird das Schiff entladen, so daß die Jünger derweilen die dortige Gemeinde aufsuchen. Auch aus ihr kommen Leidensvorhersagen, und alle trauern, daß Paulus ihren Warnungen vor Jerusalem nicht entspricht!
Über Akko kommen sie nach Cäsarea ins Haus eines Philippus, der im Unterschied zum Apostel als Diakon und Verbreiter des Evangeliums bezeichnet wird. Dessen Töchter sowie ein von Jerusalem herabgekommener Prophet zeigen an, daß Paulus dort oben gefesselt und den Heiden, also den Römern ausgeliefert werde.
Wenn wir uns nun fragen, warum Paulus bei in der Apostelgeschichte so eindeutigen Vorzeichen Jerusalem besucht und wenn wir feststellen, daß diese Vorzeichen im selbst kurz zuvor verfaßten Römerbrief bestätigt werden, dann kann die Antwort eigentlich nur lauten: Er will die Einheit der jungen Kirche demonstrieren, indem er die Kollekte der Heidenchristen an die Judenchristen selbst überbringt – und die Apostelgeschichte deutet solchen Sinn an, wenn sie nach der Ankunft eine Rechtfertigung vor Jakobus berichtet. Es kommt dann zur Verhaftung durch Juden, die Paulus von seiner Tätigkeit in Asia her kennen – man wird wohl an Ephesus zu denken haben. Es folgt eine systematisch angelegte Verteidigungsrede im Tempelhof, die aber die Stimmung nur anheizt. Als Paulus schon gegeißelt werden soll, bringt er sein römisches Bürgerrecht ins Spiel. Das führt zu einer besseren Behandlung, in deren Verlauf er Gelegenheit erhält vor dem jüdischen Hohen Rat zu sprechen. Hier bringt er schließlich die Ratsmitglieder gegeneinander auf, indem er die zwischen konservativen Sadduzäern und modernen Pharisäern kontroverse Frage nach der persönlichen Auferstehung anspricht. Als es auf den Straßen gärt und ein Hinweis auf einen Anschlag eingeht, läßt der römische Ortskommandant den unbequemen Gefangenen bei Nacht in das sichere Cäsarea überführen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß ein römischer Offizier oder Beamter in erster Linie danach beurteilt wurde, ob er die äußere Ruhe und Sicherheit aufrechterhalten konnte. Auch heute noch hört man zumindest bei militärischen Obrigkeiten am liebsten die Meldung: „Auf Posten keine besonderen Vorkommnisse“. – So wundert es nicht, wenn in der Apostelgeschichte trotz einer neuen großen Rede des Paulus bei einer Verhandlung vor dem Statthalter der Provinz Judäa, Felix, dieser ihn einfach in einer Art erleichterter Untersuchungshaft beläßt. Ein ganz dezenter Satz klärt noch weiter: „Zugleich hegt er die Hoffnung, von Paulus Geld zu erhalten“ (25,26). Auf Geld wartet der saubere Beamte aber vergebens, obwohl er den Gefangenen öfters zu sich kommen ließ. Erstaunlich, wie sich die Apostelgeschichte mit außerbiblischen Quellen zu Felix deckt; mehr aber noch, daß dieser wenig günstige Fall von römischer Verwaltung überhaupt zu nennen riskiert wurde, weil so etwas sonst gar nicht die Art von Lukas ist. Vielleicht dachte der Verfasser hier an das Stilmittel des Kontrastes in dem Sinne, einen zum Beispiel bei Tacitus und Flavius Josephus sowieso schon negativ beschriebenen Beamten den sonst gerechten gegenüber zu stellen. Freilich darf man sich fragen, ob der Fall Paulus historisch durch alle in der Apostelgeschichte genannten Instanzen gegangen ist, und ob sein Weg alle in ihr genannten historischen Persönlichkeiten gekreuzt hat, vom angesehensten jüdischen Gesetzeslehrer Gamaliel über Hohe Priester und römische Obristen bis zu römischen Provinzialkönigen.
Lukas geht es ja nicht um faktische Genauigkeit allein. Er will vor allem zeigen, daß Rom als korrekte, oft sogar freundliche Schutzmacht des
Christentums auftrat, während das Judentum in blindem Haß befangen blieb, so daß sich sogar der Hohe Rat mit gemeinen Straßenmördern einließ! Von hierher wird verständlich, warum die .Apostelgeschichte mit der Ankunft in Rom endet. Im Martyrium Pauli zeigt sich Rom doch anders. Wir müssen bedenken, daß Lukas seine Leser ja zum Christentum im Römischen Reich ermuntern will, während die genannten jüdischen Institutionen kurz zuvor im Jüdischen Aufstand untergegangen sind.
Die Entlastung Roms kann auch als Motiv gesehen werden für die letzte große Paulusrede, die die Apostelgeschichte vor dem jüdischen König Agrippa und seiner Schwester Berenike abrollen läßt. Ihr Erfolg gipfelt darin, daß der Monarch erklärt, Paulus sei unschuldig und zu entlassen, wenn er nicht an den Kaiser Berufung eingelegt hätte.
Jedenfalls haben wir in Kapitel 27 den Verlauf der Gefangenschaftsreise, die weitgehend unserer Route entspricht. Daß statt Malta Santorin angelaufen wird, möchte ich am liebsten damit erklären daß trotz aller Vertiefung in Paulus bis zur Lebensnähe nicht an den Nachvollzug des Schiffbruches dieses Kapitels gedacht ist.
Gerade dieser Bericht ist aber, wie gesagt, noch einmal ein Höhepunkt in der Apostelgeschichte – auch, oder gerade wenn heutige Forschung meint, daß Lukas nicht dabei war und hier auch nicht eine genaue Schilderung von Paulus besaß, sondern eine zeitgenössische Quelle eines anderen Vorkommnisses eingebaut hat. Für die Seefahrer, die Nautiker, hat die Apostelgeschichte dann den nicht zu geringen Verdienst, diese Quelle für uns Heutige überliefert zu haben. Für den religiösen Leser leistet die Redaktionsarbeit darüber hinaus den Aufweis, wie ein christliches Vorbild weder Menschen noch Naturkräften hoffnungslos ausgesetzt ist. So oder so – als handliches Stück zur Nachlese über echtes Reisen besonders zu empfehlen. Beachten wir zum Beispiel einmal die erhebliche Zahl von 276 Personen an Bord, ganz zu schweigen von den verschiedenen Maßnahmen der Standortbestimmung, der Sicherung des Schilfes im Sturm und schließlich der gekonnten Technik des Strandens, bei der auch alle Nichtschwimmer vollzählig an Land kamen!
Eigenartig erscheint, daß trotz der Autorität, die sich Paulus bei der dramatischen Seefahrt und der Heilung eines vornehmen Mannes erwirbt, von einer Mission nichts berichtet wird. Auf Malta war vielleicht die Verständigung über die ursprünglich phönikische Landessprache doch zu schwierig?
Im Frühjahr geht es auf einem alexandrinischen Schiff über Syrakus und Rhegium nach Puteoli. Hier wird erstmals wieder von der Freude berichtet, daß Paulus von Brüdern erwartet und aufgenommen wird. ‚Und dies wiederholt sich in größerem Umfang bei den Brüdern Roms, die von seinem Kommen gehört und eine Abordnung etwa 60 Kilometer auf der Via Appia entgegensenden.
Lukas erwähnt hier also nur die Lichtseiten: Die Wertschätzung der Gemeinde, ja sogar von römischen Juden, die Paulus in der recht angenehm geschilderten Untersuchungshaft beehren, sich allerdings – wer konnte es anders erwarten – größtenteils der Erlösung in Jesus verschließen. Daher endet der Paulus der Apostelgeschichte mit dem Satz 28,28: „So sei euch denn kundgetan, daß das Heil Gottes den Heiden gebrach‘ wird. Diese werden ihm Gehör schenken“.
Mit dem Bericht einer zweijährigen, freimütigen und unbehinderten Wirksamkeit im römischen Hausarrest endet die Apostelgeschichte. Wir haben erkannt, daß sie uns als eine Art erste Kirchengeschichte eher den äußeren Weg des Paulus gibt. In großen Reisen und Reden schreitet er von Erfolg zu Erfolg. Den anderen, inneren Weg dieses Mannes, seine tägliche Mühe und Plage, seine außergewöhnlichen Anfechtungen, aber auch Erfahrungen mit dem Herrn Jesus Christus finden wir in den von ihm selbst verfaßten Zeugnissen. Einige biographische Stellen haben wir uns angesehen. Doch diese persönliche Glaubenserfahrungen können wohl nicht so am Stück gelesen werden wie die apostolische Geschichte vom Siegeslauf des Evangeliums. Ein Geheimnis besteht ja darin, daß sie, obwohl zu konkreten Anlässen an bestimmte Adressaten gerichtet, oftmals unter Zeit- und Leidensdruck verfaßt und eher zufällig überliefert, uns Heutige doch in unserem Leben ganz direkt ansprechen, lehren und trösten können. So gesehen ist unser Weg, den wir jetzt gehen der, im äußeren Nachvollzug des Weges Pauli und des Evangeliums uns stückweise auf die innere Christusbegegnung mit Paulus zu machen. Dazu ein letzter Gesichtspunkt. Paulus bringt dem Westen, uns, aus dem Osten das „Licht“ Jesu Christi. Dabei stellt er sich auf die Menschen verschiedenerorts ein und sucht, was gut ist, zu übernehmen. Und dies könnten wir wiederum von ihm übernehmen, die wir ja auch ausgezogen sind, den Menschen im Osten zu begegnen.
Comment here
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.