Die Türkei ist nach Einschätzung des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff bei der Stärkung der Religionsfreiheit der Christen „in der richtigen Richtung unterwegs“, aber noch nicht am Ziel. Wulff äußerte sich am Rande eines ökumenischen Gottesdienstes in der Pauluskirche von Tarsus. Die südtürkische Stadt ist der Geburtsort des christlichen Völkerapostels Paulus, der das Urchristentum für die Heidenmission geöffnet hatte.
Wulff sagte im Anschluss an die Feier in der Kirche vor Journalisten, er hoffe, dass die Türkei die Probleme der christlichen Minderheit „alsbald“ lösen werde. Als wichtigste Fragen zählte er die Anerkennung von Gemeinden als Rechtspersönlichkeiten, den Unterhalt der Kirchen sowie die Ausbildung von Priesternachwuchs auf. Er sei erfreut, „dass wir immer mehr Verständnis finden für unsere Wünsche“, sagte der Bundespräsident.
Der ökumenische Gottesdienst in der Pauluskirche erfolgte mit einer Sondergenehmigung; das Gotteshaus wird sonst eigentlich als Museum genutzt. Geleitet wurde der Gottesdienst vom evangelischen Pfarrer der deutschen Gemeinde in Istanbul, Holger Nollmann, und seinem katholischen Kollegen, dem Lazaristen P. Christian Rolke CM.
Auch führende Vertreter der christlichen Minderheiten der Türkei beteiligten sich an der Feier: Der Segen wurde vom armenischen Erzbischof Aram Ateşyan gesprochen. Das Vaterunser betete der syrisch-orthodoxe Bischof von Adiyaman, Gregorius Melki Ürek, auf Aramäisch. Abuna Spiro Teymur von der griechisch-orthodoxen Kirche in Mersin las auf Arabisch aus dem Evangelium. „Ein unvergesslicher Tag“, sagte Wulff.
Pfarrer Nollmann erinnerte in seiner Predigt daran, dass auf dem Gebiet der heutigen Türkei „die in¬haltliche und konzeptionelle Entwicklung des Christentums zur Weltreligion begann“. Auch heute noch sei das Christentum ein Bestandteil des Landes, obwohl die Christen nur noch eine winzi¬ge Minderheit seien. „Wir sehnen uns nach voll¬ständiger Religionsfreiheit“, sagte Nollmann. Dies sei mehr als nur Toleranz: „Toleranz wird gewährt oder versagt, aber Religionsfreiheit heißt, einen Rechtsanspruch zu haben. …
Dabei muss es uns Christen mit einer gewissen Demut erfüllen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass nirgendwo im langen historischen Prozess der Entwicklung der Menschenrechte die Kirchen als Institutionen, und schon gar nicht ihre Leitungsorgane zur Avantgarde politischer Frei¬heit und erst recht nicht der Religionsfreiheit gehört haben – trotz des paulinischen Credos: yWo der Geist Gottes wirkt, da ist Freiheit.‘ Die Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist in den christlichen Kirchen das Ergebnis eines
langen historischen und theologischen Entwicklungs- und Lernprozesses. Und sie ist zunächst nicht aus theologischer Erkenntnis, sondern aus eigenen Unrechtserfahrungen erwachsen. Von daher gibt es keinen Grund dafür, aus einer Haltung christlicher Überlegenheit oder gar christlicher Überheblichkeit die Lage der Religionsfreiheit z.B. in der Türkei zu betrachten.
Auf diesem Hintergrund gibt es heute gerade für uns Christen keine Alternative zum Eintreten für die Religionsfreiheit – und zwar für alle und an allen Orten; nur so ist dieses Engagement glaubwürdig. Und das heißt ganz konkret und unteilbar: für Christen in der Türkei genauso wie für Muslime in Deutschland. Dafür wollen wir eintreten – mit der Beharrlichkeit eines Paulus – nicht eifernd und kämpfend – sondern als Meister der Vernetzung, des Dialogs und der Kommunikation und vor allem als Missionare der Liebe Gottes zu den Menschen, zu allen Menschen. “
Wulff hatte bereits zu Beginn seiner Türkeireise in Ankara mehr Rechte und Freiheiten für die christliche Minderheit gefordert. „Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei“, sagte Wulff in einer Rede vor dem türkischen Parlament.
Muslime könnten in Deutschland ihren Glauben „in würdigem Rahmen“ praktizieren, sagte der Bundespräsident. Deutschland erwarte, „dass Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht haben, ihren Glauben öffentlich zu leben, theologischen Nachwuchs auszubilden und Kirchen zu bauen“.
Die Religionsfreiheit sei Teil „unseres Verständnisses von Europa als Wertegemeinschaft“, sagte Wulff vor den türkischen Abgeordneten. „Wir müssen religiösen Minderheiten die freie Ausübung ihres Glaubens ermöglichen.“ Das sei nicht unumstritten, aber notwendig.
Wulff traf sich in Ankara auch mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und mit Staatspräsident Abdullah Gül, mit dem er ebenfalls über die Religionsfreiheit sprach. Gül sagte vor Journalisten anschließend, er sei auch Präsident der christlichen und jüdischen Staatsbürger der Türkei.
Zum Abschluss seines Staatsbesuches besuchte der Bundespräsident am Freitag in Istanbul noch den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. von Konstantinopel und besichtigte die Hagia Sophia.
Ankara. 21.10.10 (KAP und eigener Bericht)
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